... "Der seelisch geplagte Mensch unserer Zeit, der zeitgenössische
Pilger, will Schüler eines Psychotherapeuten sein. Wenn er ernsthaft
die Führung eines solchen neuzeitlichen Guru sucht, wird er sich bald auf
einer geistigen Pilgerschaft wiederfinden. Das ist nicht weiter erstaunlich; Beklemmung,
Zweifel und Hoffnungslosigkeit zeigen Krisen an, Perioden der Ratlosigkeit,
die immer dann auftreten, wenn der Mensch unsicher genug ist, um innerlich wachsen
zu können. Wir müssen unser Gefühl des Unbehagens immer als
die Chance betrachten, »das Wachstum zu wählen und nicht die Angst«.
Der tiefe Wunsch des Patienten nach Wachstum ist zugleich die wichtigste Antriebskraft
seiner Pilgerschaft. Der Psychotherapeut muß sich dieser Kraft in seinem
Patienten nur bewußt sein und sie im Auge behalten. Dann wird er Freude
an seiner Arbeit haben und nicht in Langeweile versinken. Während die Person
vor ihm mit beinahe lähmenden Konflikten kämpft, muß er nur beobachten,
ob das, wovon er weiß, daß es da ist, auch auftaucht: die dem Menschen
eigene Sehnsucht nach Beziehung und Sinn. Er ist nur Beobachter und Katalysator;
es liegt nicht in seiner Macht, den Patienten zu >heilen<. Er kann dessen
angeborener Fähigkeit, von sich aus gesund zu werden, nichts hinzufügen.
Wenn er es versucht, stößt er auf hartnäckigen Widerstand, der
die Behandlung nur verzögert. Der Patient hat bereits alles, was er braucht,
um gesund zu werden. Da er (der Therapeut) nicht für die Heilung >verantwortlich<
ist, kann er sich in aller Ruhe an dem Schauspiel der fortschreitenden Gesundung
erfreuen.
Natürlich handelt der Patient wie jeder andere (einschließlich
des Therapeuten) zu oft eher aus Furcht als aus Verlangen nach Wachstum.
Sonst würde er ja seinen langen Weg in überströmender Freude antreten
und nicht (wie es öfter der Fall ist) in Schmerz und innerem Aufruhr. Die
Leute wollen von einem Psychotherapeuten geführt werden, wenn ihre gewohnte
selbst-beschränkende, risikofeindliche Art zu handeln sie nicht weiterbringt,
sondern Zerrissenheit und Erschöpfung in ihr Leben trägt. Ansonsten
sind wir nur allzu bereit, mit dem Bekannten zu leben, solange es zu funktionieren
scheint, wie dürftig die Ergebnisse, die wir damit erzielen, auch immer sein
mögen.
Der Patient behauptet zu Beginn der Therapie meistens, daß er sich ändern
möchte, aber in Wahrheit will er so bleiben, wie er ist, und der Therapeut
soll nur etwas unternehmen, damit er sich besser fühlt. Er will einfach ein
erfolgreicherer Neurotiker werden und bekommen, was er sich wünscht, ohne
das Risiko des Neuen auf sich nehmen zu müssen. Die Sicherheit des bekannten
Elends ist ihm lieber als die ungewohnte Blöße der Ungewißheit.
Mit dieser nur allzu menschlichen Schwäche behaftet, nähert sich der
Pilger-Patient seinem Therapeuten zu Anfang vielleicht wie ein kleines Kind, das
sich an seine Eltern wendet und verlangt, daß sie sich um es kümmern.
Es ist, als käme er in meine Praxis und sagte: »Meine Welt ist zerbrochen,
Sie müssen sie mir wieder zusammenfügen.«
Deshalb beginne ich meine Arbeit immer mit zwei Vorsätzen: Ich will auf mich
selbst achten, und es soll mir Vergnügen machen. Die treibende Kraft unserer
Interaktion muß der Patient sein. Es ist, als stünde ich im Türrahmen
meiner Praxis und wartete. Der Patient kommt herein, stürzt auf mich los
und versucht verzweifelt, mich in sein Hirngespinst, daß ich mich um ihn
kümmern muß, hineinzuziehen. Ich trete zur Seite. Der Patient
fällt hin, enttäuscht und verwirrt. Jetzt hat er die Möglichkeit,
aufzustehen und etwas Neues zu versuchen. Wenn ich bei diesem psychotherapeutischen
Judo geschickt genug bin, und er mutig und ausdauernd genug ist, wird er vielleicht
neugierig auf sich selbst, lernt, mich zu sehen wie ich bin und fängt an,
seine Probleme selbst zu lösen. Möglich, daß sich seine Halsstarrigkeit
in zielstrebige Entschlossenheit verwandelt, daß er seine Bemühung
um Sicherheit aufgibt und statt dessen nach dem Abenteuer greift.
Man wird fragen: »Wie kann denn die Anwesenheit eines Therapeuten einen
solchen Menschen bei seiner Suche unterstützen?« Er kann auf viele
Arten nützlich sein. Zunächst begegnet er dem bis dahin selbst-zentrierten
Patienten, der nur seine eigenen Probleme sehen kann, als ein weiteres, sich mühsam
durchkämpfendes menschliches Wesen. Er kann interpretieren und beraten, er
gibt die für das innere Wachstum notwendige emotionale Bejahung und vor allem,
er kann zuhören. Er nimmt nicht einfach nur auf, sondern hört aktiv
und zielbewußt zu und reagiert mit dem Instrument seines Handwerks, mit
der Verletzlichkeit seines eigenen zitternden Ichs. Damit erleichtert er
es dem Patienten, seine Geschichte zu erzählen und sich damit vielleicht
zu befreien. Der Therapeut schafft eine »traumartige Atmosphäre ...
und in ihr hat ... der Patient nichts, auf das er sich stützen kann, außer...
seiner eigenen, so fehlbaren Urteilskraft«.4 Diese Beschreibung habe ich
aus C. G. Jungs Einleitung zur englischen Fassung des I Ging entwendet; dort ist
sie Teil einer Beschreibung, mit der Jung die Nützlichkeit dieses dreitausend
Jahre alten Buches der Wandlungen darstellt, aus dem ich einige Zeilen als Einleitung
dieses Kapitels benutzt habe. Zuerst versucht der Patient, den Therapeuten so
zu benutzen, wie viele andere im Lauf der Jahrhunderte versucht haben, das I Ging,
das älteste Buch der Weissagungen, zu benutzen. Das Buch der Wandlungen besteht
aus Bildern der Mythologie und der sozialen und religiösen Institutionen
seiner Entstehungszeit. Die Menschen des Ostens haben zu oft versucht, sich dieser
Bilder als Orakel zu bedienen, genau so, wie manche Christen die Bibel öffneten
und wahllos irgendeinen Vers herausgriffen, in der Hoffnung, gezielten Rat für
ihre Probleme zu finden. Auch der Patient in der Psychotherapie mag zunächst
versuchen, den Therapeuten dahin zu bringen, daß er ihm sagt, was er tun
muß, um glücklich zu sein, und wie er leben kann, ohne für sein
eigenes Leben voll verantwortlich sein zu müssen.
Aber das / Ging, die Bibel, der heutige Psychotherapeut und andere Gurus sind
recht armselige Orakel. Weit bedeutsamer sind sie als Quelle des Wissens über
die Unklarheit, die Unlösbarkeit und die Unvermeidlichkeit der menschlichen
Situation. Ihr Wert liegt darin, daß sie eine Bilderwelt anbieten, die zwar
festgelegt ist, aber nicht stereotyp; Bilder, ȟber die man meditieren
und in denen man seine Identität entdecken kann«.5 Zu diesen Quellen
muß der Suchende gehen und dann dem Echo zuhören, das diese Bücher
der Weisheit oder sein Guru zurückwerfen. Der Helfer gibt nur »eine
einzige andauernde Ermahnung, den eigenen Charakter, Einstellungen und Motive
genau zu prüfen«.
Der Sucher kommt in der Hoffnung, etwas Endgültiges, Dauerndes, keinem
Wechsel Unterworfenes zu finden, auf das er sich verlassen kann. Statt dessen
wird ihm der Gedanke angeboten, daß das Leben nichts weiter ist, als was
es zu sein scheint, ein Sack voller Wechselhaftigkeit, Mehrdeutigkeit und Vergänglichkeit.
Das mag oft entmutigend sein, lohnt aber letztlich doch die Mühe, denn es
gibt sonst nichts. Der Pilger wünscht sich eine endgültige Lebensweise
und erfährt statt dessen:
Der SINN, der sich aussprechen läßt,
ist nicht der ewige SINN.
Der Name, der sich nennen läßt,
ist nicht der ewige Name. ...
28-10-2011